Das Buch und seine Geschichten...

Über Hunde und Menschen und die Macht der Liebe

Nadeshda und der arme Mensch von Pancharewo

Das letzte Kapitel…

 

2006 habe ich „Diesseits der Hoffnung“ geschrieben.

Nun bin ich jenseits davon. 

Das Tierheim, dem eine wunderschöne Hündin aus den Bergen hoch über Sofia den Namen gab, wurde 2016 aufgelöst.

Die Gründe?

Angeblich, so wird berichtet, weil ein Immobilienhai das Gelände (ein Naturschutzgebiet mitten im Wald!) kaufen wollte. So wie fünf Jahre zuvor  ein Hubschrauberlandeplatz auf dem Gelände des TH Rousse entstehen sollte, das ebenfalls aufgelöst wurde. Soweit ich weiß gab es nie einen Hubschrauberlandeplatz und ich vermute es gibt auch keinen Immobilienhai. Zumindest keinen der Losenetz kaufen will.

Losenetz, das einmal eine große Hoffnung war und Nadeshda hieß.

               Ivo vom Berge

Sie sind alle gegangen, die damals  2006 am Tor des Isolators standen und mich aufgeregt begrüßten – oder scheu in einer Hütte lagen, so wie Lyndon und Ivo vom Berge.

Sie waren Gefährten und Schützlinge eines alten Mannes, der in einer kalten Februarnacht in seiner ungeschützten Hütte in der Bergen erfroren war. Es war ein ganzes Rudel, aber nur Ivo und Lyndon konnten eingefangen werden. 

                            Lyndon


Nadeshda und ihr Welpe Tony, kurz vor der Ausreise.

Und Millie, die damals gerade 5 Junge zur Welt gebracht hatte, von denen zwei innerhalb von drei Tagen spurlos verschwanden. Ich habe sie nicht mehr gefunden, als ich Millie vom Berg holte. Übrig waren drei kleine Rüden; einer war krank und starb wenig später. Einer wurde von der damaligen Bevollmächtigten der Station in Sofia - unautorisiert - „vermittelt“. 

                            Tony


Ihr letzter Sohn, Antonius, reiste mit ihr aus und starb im Juni 2015. Gottlob in den Armen einer Familie, die ihn liebte.

 Mischo, der Patriarch, der die Tötung Losenetz überlebt hatte, starb im Februar 2009. Dantsche, seine Gefährtin und Mutter seiner vielen Kinder (von mir Maika Sofia genannt) im Januar 2014. Sie überlebte ihn um fünf Jahre. Die liebenswerte Gana, die zwar die Staupe überlebt hatte, aber nie ein Zuhause fand. Wann sie zum Regenbogen ging hat man mir nicht mehr mitgeteilt.

Nun sind auch Lyndon und Ivo gegangen. Sie haben 10 Jahre in dieser Station verbracht, die voller und immer voller wurde. Sie sind gegangen, bevor das Schicksal, das nur bedingt freundlich zu ihnen war, ihnen ein weiteres Mal das nahm, was in all diesen Jahren ihr Zuhause geworden war.

 

Vielleicht sind sie nun wieder oben auf dem Berg über Sofia, in Pancharewo, wo ein alter Mann für sie sorgte, wo das Leben hart und entbehrungsreich und voller Gefahren war.

 

Dort, wo sie trotz allem frei  waren. Ich hoffe und glaube, dass sie es nun wieder sind.

Und dass  Iwan bei ihnen ist.

 

 Millie, die seither Nadeshda heißt, ist die einzige, die ein Leben voller Glück und Liebe gefunden  und so ein wenig von meinem Traum bewahrt hat.

Sie ging im Oktober 2018 auf die andere Seite. Und vielleicht zurück zu ihrem Rudel und ihren verlorenen Kindern.

Februar 2006

Heute war er noch einmal nach unten in den Ort gegangen; der Berg war zugeschneit, die Wege nicht mehr zu erkennen. Es war schwieriger als sonst gewesen, er war oft gerutscht und gefallen, hatte Mühe gehabt wieder auf die Beine zu kommen, die so eigentümlich weich waren und ihm nicht recht gehorchen wollten. Er hatte Stunden gebraucht und war völlig erschöpft angekommen, hatte für seinen üblichen Rundgang zu den Abfalltonnen dreimal so viel Zeit gebraucht wie sonst, und weil er so spät gekommen war fiel die Ausbeute entsprechend mager aus, denn andere waren vor ihm da gewesen. Also hatte er an der Küche eines Restaurants um Abfälle gebettelt und das Glück gehabt,  dass so viele der wohlhabenden Gäste ihre Teller nicht geleert hatten, sodass die kleine Serviererin, von der er öfter heimlich etwas zugesteckt bekam, mit einer vollen Plastiktüte, in denen die Essensreste der Reichen steckten, zu ihm gehuscht war. Selbst ein ganzes Brot vom Vortag hatte er darin gefunden, sodass er, wenn er es sparsam einteilte, vielleicht morgen nicht hinunter musste.

Der Aufstieg war ebenso erbärmlich gewesen und er hatte sich Schritt für Schritt voran gekämpft, manchmal so müde, dass er sich am liebsten in den Schnee gesetzt hätte, um auszuruhen. Aber er wusste, dass er das auf keinen Fall tun durfte, nicht wenn er oben ankommen wollte, zu den zehn Hunden die auf ihn warteten, die auf ihn angewiesen waren.

 

Er war fast den ganzen Tag fort gewesen, doch Millie saß unter dem Birnbaum und wartete auf ihn, wie jedes Mal; vielleicht weil sie so immer als erste ein paar Bissen abbekam, aber er glaubte es eigentlich nicht. Sie folgte ihm stets, wusste aber, dass sie am Birnbaum nicht weiter durfte, also verharrte sie dort und wartete auf seine Rückkehr.

 

Er verschnauft mühsam und streicht mit den blaugefrorenen Händen, die von den Taschen seines langen Mantels nur unzureichend warm gehalten werden, über ihr dichtes, silberfarbenes Fell.

„Du hast’s gut Millitschka“, murmelt er. „Ich wünschte, ich hätt auch so einen warmen Pelz wie du. Mir ist so kalt. Bist hungrig, ja? Sollst gleich was haben.“

Er bläst in seine klammen Hände und nestelt an den Schnüren seiner Umhängetasche, an der sie begehrlich schnuppert, bricht ein Stück des Brotes ab und gibt es ihr. Sie verschlingt es heißhungrig und er gibt ihr noch ein Stück, dann stopft er es zurück.

„Müssen sehen, dass es noch für morgen reicht, Millitschka. Mir ist nicht wohl, weiß nicht, ob ich’s so bald wieder nach unten schaffe; wir müssen strecken was wir haben, Millie, strecken,“ und er macht sich wieder auf den Weg, um den letzten Rest des Anstiegs zu bewältigen, vorbei an dem Gartenzaun, der Milchos steiles Grundstück begrenzt, dessen Hütte hoch oben auf dem Gipfel thront, unerreichbar für seine müden Beine, was schade ist, denn Milcho hat bestimmt Reisig gesammelt und Feuer im Kanonenofen. Ein heißer Tee täte ihm sicher gut. Aber dort hinauf schafft er es nicht mehr. Auch ist es in wenigen Minuten dunkel und er muss seine Hütte vorher erreichen, also stapft er weiter hügelan und Millie folgt ihm.

Zwei neue Häuser stehen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft,  aber in den Wintermonaten kommt kein Auto mehr den Berg hinauf, und so wird es Frühjahr werden, bis man sie wieder bewohnen wird. Er hat also noch ein paar Wochen Ruhe, denn die neuen Nachbarn schätzen weder ihn noch seine Hunde und das lassen sie ihn spüren. Sie verachten sein schäbiges Äußeres und seine hungrigen Augen, sie empfinden sein Asyl als einen Schandfleck, der abgerissen gehört und sie hassen die Hunde, die durch ihre Gärten – oder was sie dafür halten – streunen, so wie sie das immer getan haben, als hier noch keine Häuser standen und niemand dieses Land für sich beansprucht und als Garten bezeichnet hatte, als er und Milcho hier noch völlig ungestört waren. Nun rückt die Stadt auch hier in diese Wildnis vor, und mit ihr die Gefahr der Vertreibung, denn die betuchten Bürger, die die reine Bergluft von Pancharewo gegen den Smog des Sofioter Talkessels eintauschen und sich schöne Häuser mit großartigem Panorama leisten wollen, sind nicht gewillt, den Obdachlosen und seine verfluchten Jauchenköter als Dreingabe zu akzeptieren, auch nicht, wenn er schon  Jahre vor ihnen hier war. Sie wollen dass er verschwindet und mit ihm die Hunde, seine Kinder.

Sie hören ihn, als er sich die letzte Steigung hinaufmüht, kommen ihm, je nach Wesensart, winselnd bis laut bellend entgegen, außer sich vor Freude ihn wieder zu sehen, wie Welpen, die den heimkehrenden Eltern, die Nahrung von der Jagd bringen, entgegenstürmen und um Futter anbetteln. Sie sind seine Welpen, seine Kinder, die sein Los mit ihm teilen und ihn nicht verlassen werden, gleichgültig wie er aussieht und wie elend seine Behausung ist, gleichgültig auch, wie groß oder klein die Ausbeute seiner Wanderungen ist und was oder wie viel er ihnen zu fressen bringen kann.

Diesmal hat er recht viel mitgebracht, aber er muss es einteilen. Er fühlt sich so schwach und zittrig, dass er sich zunächst auf  sein Bett setzen muss, das unmittelbar neben dem Eingang steht. Vielleicht kann er morgen nicht hinunter gehen, also muss er das Futter sorgsam rationieren, und den Rest so unterbringen, dass die Hunde nicht herankommen – zumindest nicht so bald. Sie drängen sich winselnd um ihn, als er in die  Plastiktüte greift und mit den Händen die matschigen Reste herausholt, die die reichen Restaurantbesucher verschmäht haben. Für ihn sind sie reich, für ihn ist jeder reich, der es sich leisten kann Nahrung wegzuwerfen, noch dazu Nahrung für die er  teuer in einem Restaurant bezahlt hat.

Seine Mutter hätte derartige Leute wahrscheinlich als Parvenüs bezeichnet, sofern sie überhaupt jemals mit dieser Spezies in Kontakt geraten wäre.

Er war nie in einem Restaurant gewesen. Seine Mutter hatte solche Etablissements für anrüchig gehalten und für eine Zumutung etwas zu essen, das nicht von ihrem eigenen Personal, unter ihrer Aufsicht zubereitet worden war. Die Mahlzeiten wurden zu Hause eingenommen, außer man ging in Gesellschaft, wo jedoch ebenfalls hauseigene Köche am Werk waren. In den Kriegsjahren waren diese Gesellschaften natürlich rar geworden, ebenso wie das Personal. Und nach dem Krieg...

Nach dem Krieg gab es nichts mehr, zumindest nicht für ihn und seine Gesellschaftsklasse. Ihre Ländereien waren enteignet, und in ihrem schönen Barockhaus in Lovech saßen die Roten, nachdem sie seinen Vater verhaftet und  als konspiratives Mitglied der Königstreuen hingerichtet hatten. 

Und er war mit seiner Mutter von einem Versteck ins nächste geflohen.

Die Königinwitwe hatte mit dem kleinen Thronerben noch vor Kriegsende das Land verlassen, um zu verhindern, dass sich Hitler die Vormundschaft über ihn aneignete, doch nach dem Einmarsch der Roten Armee waren die Mitglieder des Regentschaftsrates samt und sonders an die Wand gestellt und der neunjährige König endgültig ins Exil verbannt worden.

Sein Vater hatte zwar nicht zum Regentschaftsrat gehört, aber der Krone nahe genug gestanden, um sein Schicksal zu teilen.

Danach hatte er kein Leben, keine Zukunft mehr gehabt.

Er war mit der Mutter von einem Verwandten zum nächsten gezogen, nur um festzustellen, dass es in seiner Familie niemanden mehr gab, der in einer besseren Situation gewesen wäre und ihnen hätte helfen können. Der Tod der Mutter, in einem Armenspital, riss seine letzten Wurzeln heraus. Er war 18 Jahre alt, hatte eine gute Erziehung und Schulbildung genossen und studieren wollen: nun musste er erfahren, dass ihm nichts von dem was er gelernt hatte nützte, noch jemals wieder nützen würde; nicht seine guten Manieren, nicht seine Bildung, nicht seine Kenntnisse des Englischen und Französischen und auch nicht seine Intelligenz.

Er war zum Ausgestoßenen geworden, war nicht mehr als die streunenden Hunde auf der Straße, heimatlos wie sie und ebenso unerwünscht. Das Land, sein Land, dem er hatte dienen wollen, verkam in dem irrsinnigen Versuch des Kommunismus, eine blühende Agrargesellschaft im Hauruckverfahren in einen Industriestaat umzuwandeln, wurde regiert von Elementen, die kurz zuvor noch die Gefängnisse bevölkert hatten und nun als „politische“ Inhaftierte und Helden des neuen Staates galten, der in Windeseile den Bach hinunter ging, mit enteigneten Bauern, die als Arbeiterproletariat in die Städte und in die Armut zogen – aber auch unter ihnen gab es keinen Platz für  ihn.

Er war zu einem Niemand geworden, der das einzige, was er bei der überstürzten Flucht aus Lovech von seinem Eigentum hatte retten können, einige seiner Bücher, in einer Umhängetasche mit sich über die Straßen trug, zu einer langen, nicht enden wollenden Wanderung, die  zweiundfünfzig Jahre andauern sollte.

Er ist jetzt achtzig Jahre alt – oh ja, das weiß er noch - und hier, auf diesem Berg, so weit weg wie möglich von der übrigen Menschheit, ist er vor zehn Jahren sesshaft geworden, in der Nähe von Milcho und seiner Frau, die ihm den verlassenen Rohbau zeigten, mit den leeren Fensterhöhlen und dem mauerlosen Dachstuhl, in den er eingezogen ist, in der unbestimmten Vorstellung, in die Zielgerade eingebogen zu sein und ankern zu müssen. Dass der Herr ihn so alt hat werden lassen, trotz aller widrigen Umstände seines harten Lebens, bei Wind und Wetter, ohne ärztliche Hilfe oder ausreichende Nahrung auf den Straßen wandernd, und in baufälligen Unterkünften oder auch auf freiem Feld übernachtend, sieht er nicht als Gnade sondern eher als Strafe an.

Aber so war es sein Wille gewesen und irgendwann hat er ihn nur noch hingenommen, in Demut aber ohne Dankbarkeit.

Das Haus hat zwei Räume, jeder mit einer eigenen Tür versehen. In dem einen Raum stapelt er das Reisigholz, das er für den Winter braucht, in dem anderen haust er, inmitten des Mobiliars, das er vorgefunden hat, einem maroden Gestell mit einer Matratze darauf, einem Stuhl und einigen Kisten, von denen eine sein Tisch wird und die anderen seine Bücher aufnehmen, in denen er liest, solange das Tageslicht reicht, unablässig und immer wieder, denn andere gibt es nicht.  

Er lebt aus den Abfalltonnen und von dem was er, an den Hintertüren von Restaurants und Supermärkten, erbetteln kann.

Die Hunde sind wie er, ausgestoßen  und überflüssig; und sie sind die einzigen, die seine Seele warm halten, weil sie ihn lieben, ihn instinktiv verstehen und ihn niemals verachten oder verlassen würden. Es sind nur so viele geworden, dass er Schwierigkeiten hat, sie satt zu bekommen. Es gibt Tage an denen sie alle hungrig einschlafen und er macht sich Sorgen um Millitschka. Ihr nächster Wurf steht bevor und sie braucht mehr zu fressen als die anderen; und dann werden weitere Mäuler zu stopfen sein, auch wenn noch nie mehr als eines oder auch zwei ihrer Welpen überlebt haben.

 

Er weiß, dass seine Kraft nicht mehr lange reichen wird, um diese, seine, Kinder gegen die Nachbarn zu verteidigen, die auf der Lauer liegen, drohen, mit Schrotflinten auf die Hunde zu schießen, es aber nicht wagen, solange er da ist; vielleicht wird er weiter hinauf auf den Berg müssen, in undurchdringlichere Wildnis, in die so schnell kein Städter folgen wird. Aber wer weiß schon, wie weit sie noch hinauf kommen? In den letzten fünf Jahren sind die neuen Häuser immer weiter auf den Berg gekrochen, immer näher auf ihn zu, wie Ungeheuer die ihn verschlingen wollen, als gäbe es da wo sie sich ausbreiten wollen keine Lebensberechtigung für ihn und seinesgleichen, für die, die am Rand leben, nur wenige fußbreit vom Abgrund entfernt.

Er hält den Hunden seine leeren, verschmierten Hände hin, die sie sauberlecken, dann hängt er die Plastiktüte an einen Nagel, damit niemand herankommt und lässt sich stöhnend wieder auf sein Bett sinken. Es geht ihm nicht gut, er zittert und fühlt kalten Schweiß auf der Stirn und es wäre gut wenn er etwas Holz und Papier in der Metalltonne verbrennen könnte, die ihm als Ofen dient. Aber  das Reisigholz, das er gesammelt hat, liegt in dem anderen Raum, er müsste es holen und er weiß nicht mehr wo die Streichhölzer sind, ohne die er kein Feuer machen kann, und in der Dunkelheit weiß er nicht, wo er suchen soll. In der Manteltasche sind sie nicht mehr, vielleicht hat er sie verloren.

Er ist zu müde zum Suchen.

Als allerdings die erste Sturmböe Schnee und Eishagel in die Hütte fegt weiß er, dass es einen Schneesturm geben wird und dass er etwas unternehmen muss, um die Tür zu sichern und den Rest der leeren Fensterhöhle mit einem Brett zu vernageln, sonst begräbt ihn der Schnee selbst in seiner Behausung. In den letzten Tagen hat er herumliegende Backsteine von den Grundstücken der neuen Häuser gestohlen und begonnen das Fenster zuzumauern. Aber es ist noch immer ein ziemlich großes Loch verblieben und so rappelt er sich hoch und kämpft sich hinaus, um eine zerbrochene Tür, die ebenfalls auf einem der Anwesen herumgelegen hat, heran zu schleifen und von außen gegen das Fenster zu lehnen. Vernageln kann er es nicht mehr, der Sturm bläst ihn fast um und so kann er nur hoffen, dass die Konstruktion die Nacht übersteht, ohne die Tür davon zu wehen. Sein Eingang ist nur von außen zu verschließen, mit einem Vorhängeschloss, aber er hat von innen einen Strick gespannt, den er nun um einen langen Nagel neben dem Fenster wickelt, um die Tür einigermaßen verschlossen zu halten. Ein langer Spalt klafft dennoch, durch den die schneidende Kälte mit dem Wind in immer kürzeren Abständen hereinfaucht.

Er zieht sich auf das Bett zurück, sich verfluchend, dass er es direkt unter dem Fenster hat stehen lassen, statt es so zu stellen, dass es bestmöglich vor Wind und Nässe geschützt ist, an die linke Wand zum Beispiel, neben der Tonne, in der er sein Feuer macht – dort wäre ein weit besserer Platz gewesen. Jetzt ist er zu schwach und elend um es zu tun, aber er wird Milcho bitten ihm zu helfen. Morgen, wenn der Sturm vorbei ist.  Er muss nur diese Nacht überstehen. So wie die Tür vor dem Fenster.

Alles was er an zerrissenen, zerlumpten Tüchern und Decken finden kann, rafft er zusammen und wickelt sich darin ein, aber sie können die Kälte nicht abhalten und um in Bewegung zu bleiben, das einzige was ihn retten könnte, ist sein von Fieberschauern geschüttelter Körper nicht mehr fähig. Er zittert heftig, spürt sein Herz wie rasend bis zum Halse schlagen, dann aussetzen, dann wieder pochen und er beginnt laut zu reden, gegen die Angst anzureden, die ihn jählings ebenso überfällt, wie die Kälte, und er kann die eine so wenig überwältigen, wie die andere, und auch nicht den nahenden Tod.

 

In seinen letzten klaren Momenten spürt er, dass die Kälte die ihn durchdringt nicht nur die äußere Kälte ist, sondern viel tiefer von innen kommt, ihn umkreist und einhüllt und immer weiter Besitz von ihm ergreift.

Längst hat er aufgehört zu zittern und seine Gedanken verwirren sich zunehmend. Erinnerungen an seine Kindheit perlen hoch und sinken wieder ab, lassen sich nicht festhalten, Bilder kommen und gehen, von dem großen Haus in Lovech, in dem er seine Kindheit verbracht hat und den Freunden von einst; von seiner Mutter, an der langen Tafel sitzend, und die ihm stets so schön erschienen ist wie die Königin selbst; von den vielen Kerzen, die anstelle des elektrischen Lichtes bei der Abendtafel gebrannt haben, weil Maika fand, die Stimmung bei Kerzenlicht sei friedlicher, und Frieden sei es, was in Zeiten wie diesen dringend von Nöten wäre; von seinem Vater, der an den Weihnachtstagen immer zu Hause war und mit der Familie dann in der Bibliothek vor dem Kamin gesessen und gerne vorgelesen hat – ach, all die vielen Bücher in den hohen, dunklen Schränken! – und immer wenn der Vater gefragt hat, was Wanjo hören möchte, auch als dieser schon längst selbst lesen konnte, hieß es: „David Copperfield, Baschta!“* und das war dann so etwas wie ein Geheimabkommen zwischen ihm und seinem Vater, weil sie beide diese Geschichte gleichermaßen geliebt hatten.

*Vater

„Ob ich der Held meines eigenen Lebens sein werde oder ob jemand anders diese Stelle einnehmen wird, sollen diese Seiten zeigen...“

Nie wird er diese Zeilen vergessen, mit denen David Copperfield die Geschichte seines Lebens begann und auch nicht die Worte seines Vaters, die er stets anzufügen pflegte und ihm als mahnende Widmung in die englische Ausgabe des Werkes geschrieben hatte: „Es zählt nicht, ob du in den Augen der Welt ein Held bist oder sein wirst, Wanjo. Das sollst du nur in

 deinem Herzen wissen, und nichts was andere je über dich sagen oder von dir denken, soll dich von dem ablenken, was du in deinem innersten Wesen bist und sein willst.“

In den Augen der Welt war er nie ein Held gewesen sondern nur ein erbärmlicher Verlierer, aber die Worte seines Vaters hatten ihm über die Jahre geholfen seine Würde und Selbstachtung zu bewahren, und damit zugleich seine Achtung vor dem Leben. Der Abgrund in den dieses Leben ihn geschleudert hatte, konnte ihn nur in den Augen der Menschen erniedrigen, die von dieser Würde nichts wussten, nicht aber in seinen eigenen; und sie wussten deshalb nichts davon, weil sie nicht in Würde und Respekt aufgewachsen waren, keine Erinnerungen hatten wie er, die er als unverlierbaren Schatz hütete und mit sich trug.

 

Dies waren die schönsten Stunden seiner Kindheit gewesen, in diesem hohen geheimnisvollen Raum mit den unendlich vielen Büchern, in denen der Zauber seiner frühen Jahre eingeschlossen war, die wundervollen Geschichten, die ihn vergessen ließen, dass es außerhalb dieses warmen, dunklen Raumes eine Welt gab, die dieses kleine Reich bedrohte – nichts davon drang ins Innere dieses Kokons, am lodernden Feuer des alten Kamins, das ihn wärmte und schützte.

Und er spürt sie plötzlich wieder, diese Wärme, spürt sie so klar und deutlich, dass er die Decken abwirft,  denn ihm wird wohl, weil sie nun wieder alle dicht beieinander sitzen, zierliche Tassen in den Händen, in denen heißer Pfefferminztee dampft, und Maika ihn fragt, ob er noch ein Stück des Honiggebäckes möchte Er weiß nicht mehr, ob er wirklich jemals ein zweites Stück gewünscht hat, denn schon das erste hat er kaum jemals geschafft, aber nie gewagt, Unaufgegessenes auf dem Teller zurückzulassen, doch es gelingt ihm nicht genauer darüber nachzudenken, so sehr er sich auch bemüht.

Er versucht seine Mutter danach zu fragen, aber auch das kann er nicht, nur ein langes schweres Seufzen kommt über seine Lippen, und dann spürt er sie an seiner Seite, warm und weich und beruhigend.

Er ist zu Hause, Maika ist da und sorgt sich um ihn, es kann ihm nichts mehr geschehen, denn sie ist ja da und wird dafür sorgen dass er wieder gesund wird, dass er morgen wieder aufstehen kann um Futter für die Hunde zu besorgen... aber die Hunde ... Maika duldete doch nie die Hunde im Haus... was wird mit den Hunden? Er muss sie bitten sie herein zu lassen ... sie sollen doch nicht draußen in der Kälte bleiben, Millitschka ist trächtig, sie darf nicht draußen bleiben... aber wie soll er Maika fragen, wie soll er ihr klarmachen, dass diese Seelen zu ihm gehören? Er muss sie bitten, unbedingt, und die Verzweiflung, sich seiner Mutter nicht offenbaren zu können überwältigt ihn für einen Augenblick, und sein schluchzendes Seufzen lässt ihn erzittern.

„Es war die beste, es war die schlechteste aller Zeiten. Es war das Zeitalter der Weisheit, es war das der Torheit; es war die Epoche des Glaubens, es war die des Unglaubens; es waren die Tage des Lichts, es waren die der Finsternis; es war der Lenz der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung...“

 

Er liegt so lange zurück, dieser Lenz der Hoffnung, ein ganzes Menschenleben liegt er zurück und doch erinnert er sich mit großer Klarheit daran, jetzt, in diesem Winter der Verzweiflung, der schon ebenso lange andauert, und der begonnen hatte, als sie kamen um den Vater zu holen. 

Er war durch das große Haus geirrt, aus dem die Dienstboten geflohen waren, um die Mutter zu suchen, die unbeweglich in der Tür gestanden hatte, durch die sie den Vater geschleift hatten, als könnte ihre starre Würde die Barbarei dieses Anblickes aufheben, dann das Tor verschlossen und verriegelt hatte, mit einer Endgültigkeit, als wolle sie das Ungeheuerliche dieses Tuns für immer ausschließen, aus ihrem Leben und aus ihrem Geist.

Er hatte sie in der Bibliothek gefunden, inmitten umgestürzter Bücherschränke, vor dem erloschenen Kamin sitzend, ein Buch in den Händen, aus dem sie laut las, ihm, als er eintrat, mit einer knappen Geste bedeutend, sich zu ihr zu gesellen. Er war vor ihr auf die Knie gefallen und es war ihm nichts anderes in den Sinn gekommen als zu fragen, was sie denn lesen würde, und sie hatte leicht den Kopf gehoben und gesagt: „Ich habe David Copperfield nicht gefunden, Wanjo. Willst du so gut sein und danach suchen? Ich habe nur dieses Werk gefunden und es erscheint mir auch um soviel angemessener, meinst du nicht? Doch ich weiß ja, wie viel dir und Baschta immer daran gelegen hat, zur Weihnachtszeit daraus zu lesen, daher solltest du doch trachten, es zu finden. Es ist eine Erstausgabe, wenn ich mich recht entsinne, und deinem Vater wäre es nicht recht, wenn sie verloren ginge.“ Und er war auf den Knien in dem großen Raum herumgerutscht um das von ihr gewünschte Buch in dem Chaos umgestürzter Schränke und zu Haufen übereinander liegender Einbände zu finden, indes sie weiter vorlas, immer wieder dieselben Zeilen aus Charles Dickens Geschichte zweier Städte, mit ihrer kultivierten und klaren Stimme, perpetuierend die ersten Zeilen, und abbrechend, um von Neuem zu beginnen.

Es war die beste, es war die schlechteste aller Zeiten....

...es waren die Tage des Lichts, es waren die der Finsternis; es war der Lenz der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung...“

Aber es hatte nie wieder einen Frühling der Hoffnung gegeben.

Es war der Beginn eines endlosen Winters gewesen.

 

Die weiche Wärme an seiner Seite verstärkt sich, etwas liegt auf seiner Brust, etwas wischt immer wieder über sein Gesicht, mit wachsendem Druck und wachsender Verzweiflung; er vernimmt eine inständige Bitte um Antwort, der er nicht mehr folgen kann; aber sein kreiselndes Bewusstsein findet für einen  kurzen Augenblick Halt und er weiß, es ist nicht Maika die sein Gesicht ableckt und ihn anfleht zurückzukommen.

Es ist Millie.

Er empfindet große Dankbarkeit, dass Millie hier bei ihm ist, dass Maika sie nicht ausgesperrt hat in diesen heulenden Sturm da draußen, dass sie hier bei ihnen ist, am Kamin, in dem die Glut flackert...flackert...Funken wirft...auflodert und den Raum, in dem sie alle beieinander sitzen, mit den Teetassen in den Händen, noch einmal erhellt...flackert...flackert und dann verlischt, und den Raum, in dem sie alle, mit den Teetassen in den Händen, beieinander sitzen, in endlose Dunkelheit hüllt.

 

Solange sie Leben in ihm spürt lässt sie nicht nach in ihren Bemühungen ihn zurückzuholen, tritt mit den Pfoten gegen seinen eingefallenen Brustkorb und leckt unermüdlich sein Gesicht ab, stundenlang, auch als er schon starr und steif ist, Atmung und Herzschlag für jeden Menschen nicht mehr erkennbar wären, doch spürbar noch für sie, seine Hündin, die er als hilflosen Welpen gefunden und aufgezogen hat, die ihm gefolgt ist und weiter folgen will, in welchen tiefen Abgrund auch immer.

Und dann spürt sie dass sein Geistlicht, das so lange Stunden geflackert hat, aus diesem Körper, den sie so unermüdlich mit ihren Pfoten bearbeitet hat, entflieht, eine leere Hülle zurücklässt, die ihr nicht mehr antworten wird. Da lässt sie von ihm ab, weicht zurück, verunsichert witternd, denn sie kann es noch immer wahrnehmen, dieses Licht, nur nicht mehr da, wo es jahrelang gewesen ist, und sie versteht es nicht. Die anderen drängen sich heran, leise winselnd, fragend den reglosen Körper anstupsend.

Und dann wissen sie es, wissen, dass er sie verlassen hat, dass sie allein sind und dass sie den Urgewalten, die dort draußen toben und durch die halbgeschlossene Tür peitschen, so hilflos ausgeliefert sind, als stünden sie ihnen ungeschützt im Freien gegenüber, und dass es nicht diese Gewalten sind, die sie am meisten zu fürchten haben.

 

Der Herr ist tot.

Der Anführer ist gefallen.

Wer führt uns nun?

Wer gibt uns Schutz?

Bei wem sollen wir uns bergen?

 

Der Herr ist tot.

Wir sind allein.

Allein.

Der kleine rotbraune Rüde, der später den Namen „Ivo vom Berge“ erhalten wird, weil niemand weiß wie Iwan ihn genannt hat, ist der erste, der zu heulen beginnt, doch unmittelbar fallen die anderen ein, beklagen laut ihren gefallenen Rudelführer, vertrauen ihren Jammer dem Wind an, der ihn weiter trägt, hoch oben auf einem Berg über der Stadt Sofia, in einer elenden, baufälligen Hütte, durch die der Sturm einer eisigen Winternacht fegt und in der soeben ein Mensch erfroren ist.

 

Milcho hört das Heulen und setzt sich auf. Seine Katzen sitzen mit gespitzten Ohren und unruhig peitschenden Schweifen auf seinem Bett, auf dem sie ihn und sich gegenseitig wärmen. Auf dem winzigen Fenster seiner winzigen Hütte wachsen Eisblumen, aber draußen ist ohnehin nichts zu sehen, außer tiefschwarzer Nacht. Es ist bitterkalt, ein Sturm tobt und jagt das Geheul aus der Finsternis klar zu ihm herüber. Es ist bei Wanjo, denkt er, nirgendwo sonst sind hier Hunde. Er zieht die schwere Decke höher um die Schulter und lauscht, mit wachsender Unruhe. Gäbe es eine Bedrohung, würden die Hunde bellen, nicht heulen. Doch welche Bedrohung könnte es schon geben?  Er lebt drei Kilometer von jeder bewohnten Behausung entfernt, der Berg ist zugeschneit und die Wege sind vereist, es ist so stockfinster, dass keine Hand vor Augen zu sehen ist, denn die Lichter von Sofia sind weit entfernt - wer, der noch halbwegs bei Verstand wäre, würde in dieser bitteren Kälte den Berg heraufkommen, zu zwei alten Männern, bei denen es nichts zu stehlen gibt, denen man nichts mehr nehmen kann, außer ihrem Leben?

Nur der Tod, denkt er; und plötzlich klappern ihm die Zähne und er kauert sich bebend zusammen, auf dieser schmalen Liege, aus gemauerten Ziegeln und dünnen Brettern, auf denen die beulige Matratze liegt, die ihn halbwegs warm hält, in dieser kleinen, eiskalten Hütte, um die der Tod herumschleicht.

Doch nicht zu Milcho will er in dieser Nacht kommen.

 

Vielleicht deshalb nicht, weil er dort schon gewesen ist.

Als seine kleine Hütte abbrannte, in der er dreißig Jahre lang gelebt hatte, brannte auch seine Frau, starb 20 Tage später an ihren Verletzungen. Er erlitt einen Gehirnschlag, von dem er sich mühselig und langfristig wieder so weit erholte, dass er weiterleben konnte. Seine neue Kate steht unweit der abgebrannten, ein Zimmerchen, ohne Heizung, bevölkert von acht zierlichen Katzen, eine davon dreibeinig, alle wunderschön und alle glücklich. Die Hündin, die seine Einsamkeit teilt, hat einen Tumor am Gesäuge, noch klein, noch nicht so groß wie der, der ihrem Herrn am Genick aus dem Halsausschnitt wächst. Er hat kein Geld, um sie operieren zu lassen, sie wird damit leben müssen, solange sie kann, ebenso wie er. Seine Rente – 50 Lewa – reicht für Brot und Wasser, auch für Käse, und seit die Gosposha die halbgelähmte Katze, die sie gefunden hat, zu ihm brachte, bekommt er häufig Futter für die Tiere. Das hilft.

Sogar ein Telefon hat sie ihm gegeben, damit er sie anrufen kann wenn er Hilfe braucht, aber das würde er nur dann tun, wenn eines der Tiere in Not wäre, nicht für sich selber. Er kommt zurecht. Er kommt viel besser zurecht als Wanjo, der nichts hat, zumindest nichts von dem er wüsste. Er lebt vom Betteln und er inspiziert die Abfalltonnen unten im Ort, aus denen er immerhin stets soviel herausklaubt, dass er und seine Hunde nicht verhungern. Aber die Hunde werden immer mehr. Ungefähr zehn sind es schon und wenn ihn nicht alles täuscht, ist Millitschka wieder trächtig.

 

Die Gosposha hat von einer Klinik erzählt, unten in Sofia, wo die Tiere kostenlos operiert werden, sodass sie keinen Nachwuchs mehr bekommen können. Die Katzen, die bei ihm leben hat sie dort unfruchtbar machen lassen, wofür er recht dankbar ist, wenn er auch überlegt hat, ob diese Art der Geburtenkontrolle im göttlichen Plan Billigung findet  - aber da niemand Einspruch erhoben hat und die Katzen auch ohne Rolligkeit und  heftige Revierkämpfe recht glücklich zu sein scheinen, wertet er dies als Einverständnis.

Aber mit Wanjos Hunden ist das nicht so einfach. Er ist der einzige, dem sie vertrauen und Millitschka die einzige die sich überhaupt berühren lässt. Wie soll man sie einfangen und wenn, wie soll man sie in diese Klinik bringen? Die Gosposha hat ein Automobil und sogar einen Chauffeur und sie hat versprochen eine Lösung zu finden, später, im Frühling, wenn die Wege wieder passierbar sind. Aber bis dahin werden Millies neue Welpen schon geboren sein.

Jetzt ist Februar. Ein bitterkalter Februar.

Am Morgen hat er Wanjo unten vorbeilaufen sehen, wohl wieder auf dem Weg in den Ort, um Essbares zu organisieren. Er hat ihn nur noch von hinten gesehen, den langen Mantel im Wind um die knochige Gestalt peitschend, und er war sich nicht sicher gewesen, ob er sich wirklich so eigentümlich schwankend bewegt hatte, oder ob es ihm auf die Entfernung nur so erschienen war. Er war schon zu weit weg, um ihm noch hinterher rufen zu können. Er konnte Millitschka erkennen, die ihren Platz unter dem Birnbaum eingenommen hatte, um auf die Rückkehr ihres Herrn zu warten, durch das silberhelle Fell kaum von ihrer verschneiten Umgebung zu unterscheiden. Er war später zu ihr hinunter gestiegen und hatte ihr etwas Brot gebracht.

Iwans Rückkehr hatte er nicht beobachtet, aber schließlich war Millie verschwunden, also musste er heimgekommen sein.

 

Das Geheul hält unvermindert an, manchmal – zerrissen vom Wind - schwächer werdend, dann wieder anbrandend und den Sturm übertönend, der nicht nachlassen will. Schlafen kann er nicht mehr, aber er kann auch nicht mitten in der stockfinsteren Nacht und bei diesem Unwetter die bröckeligen Stufen hinunter und über die Anhöhe zu Wanjos Hütte hinüberstolpern – er würde sich vermutlich den Hals brechen, oder in einer Schneewehe stecken bleiben. Und so kauert er auf seinem Bett, seine Katzen um sich herum, die Hündin Meggy zu seinen Füßen, und lauscht auf den Klagegesang, der nicht innehalten will, sondern den Rest der Nacht andauert, und schlimme Befürchtungen in ihm aufsteigen lässt, was dort drüben, auf der anderen Seite des Berges, in Iwans Hütte geschieht oder schon geschehen ist.

 

Sobald das erste fahle Morgenlicht seine Kate erreicht macht er sich auf den Weg, einen derben Stock in der Hand, der ihm zumindest etwas Halt gibt, und das mobile Telefon an einer Schnur um den Hals, auch wenn er sich nicht vorstellen kann, dass er es wagen würde die Gosposha zu dieser frühen Stunde anzurufen. Im Osten, weit hinter den Bergen die dort den Talkessel Sofias begrenzen, steigt ein schwaches gelbes Licht empor, verschwindet aber fast sofort wieder in der Wolkenbank, die über dem Tal hängt, sodass kaum mehr zu sehen ist, als dicke, weiß-graue Watteberge, die ihn an die Wintermärchen seiner Kindheit erinnern und der Landschaft einen unwirklichen Zauber verleihen. Allerdings verraten sie ihm auch, dass es bald wieder schneien wird.

 

Im Morgengrauen war das Heulen zusammen mit dem Sturm verebbt. Als er sich den weglosen, von dornigen Sträuchern überwucherten Abhang zu dem Haus, das Iwans Zuflucht ist, hinauf arbeitet, bemerkt er einige Schatten, die sich fluchtartig den Berg hinauf bewegen und ganz offensichtlich aus der Hütte gekommen sind – Wanjos scheue Freunde, die nur ihn in seiner Nähe dulden und die jetzt die Flucht ergreifen, obgleich sie ihn kennen.

Der Eingang ist offen und halb vom Schnee zugeweht; vor dem Fenster liegt eine kaputte Tür, ebenfalls nahezu unter Schnee begraben. Über der Hütte, über den Bäumen, über dem Berg liegt beängstigende Stille, so als hätten Sturm und Klagegesang der vergangenen Nacht alle Geräusche aufgesaugt und für immer in einer stillen Kammer eingeschlossen; als wären die Hütte, die Bäume, der Berg und auch er, in einer gläsernen Schneekugel gefangen und für ewig erstarrt.

 

Er bleibt stehen und ruft. Ruft nochmals, ruft lauter und erschrickt, weil seine Stimme so gespenstisch körperlos über die Wipfel hallt, dass er sie kaum als seine eigene erkennt.

Da bekreuzigt er sich und geht weiter, geht die letzten wenigen Schritte, die ihn härter ankommen, als der Rest des Weges den er bereits gegangen ist, so als seien seine Füße in den Gummistiefeln zu kaltem Blei erstarrt, denn er weiß nun, dass er allein mit den Hunden auf dem Berg ist.

 

Das erste was er sieht, als er durch die Tür späht, ist Millie. Sie liegt auf der Matratze und wendet den Kopf zu ihm, schaut ihn an, mit diesen wunderschönen dunklen Augen, so klar und sanft und bittend; und unter ihr liegt Iwan, den sie nicht mehr wärmen kann.

Er wartet stundenlang auf die Policija. Schließlich, gegen Mittag,  ruft er die Gosposha an, die daraufhin ihrerseits bei den Behörden Krach schlägt, worauf sich eine Stunde später endlich zwei Beamte auf den Berg bemühen, schimpfend, weil der Wagen außerhalb der befestigten Straße nicht weitergekommen ist und sie sich mit der sperrigen Trage den verschneiten Weg hinaufplagen mussten. Er erwartet sie am Tor seines Grundstücks und stapft ihnen schweigend voran, noch weiter den Berg hinauf, vorbei an den schönen, neuen Häusern, mit den intakten Fenstern und Türen, durch die kein Sturm und keine Kälte gelangen, und die für jeden verschlossen bleiben, der außerhalb der Gesellschaft lebt.

Die Hunde, die zwischenzeitlich zurückgekehrt waren, fliehen erneut, wild bellend diesmal als sie der Fremden gewahr werden, aber panischer noch als zuvor; dennoch ist Iwans Totenbett nicht ohne Wächter geblieben.

Millie liegt noch an derselben Stelle, wo er sie vor Stunden im Morgengrauen vorgefunden hat, quer über dem Körper ihres toten Herrn, die Schnauze in den Pfoten vergraben, und sie wendet wiederum den Kopf als er sich nähert, schwach wedelnd. Dann bemerkt sie die Fremden und richtet sich langsam auf, zunächst leise knurrend, dann, als dies die Männer nicht daran hindert weiter zu gehen, als sie Anstalten machen in die Hütte eindringen zu wollen, steht sie auf, steht über dem Körper ihres Anführers und zieht die Lefzen zurück, laut und furchterregend knurrend, das prachtvolle silberfarbene Fell gesträubt, Zähne zeigend, die, wenn sie auch in den letzten 12 Stunden nichts zu beißen hatten, doch groß und intakt genug erscheinen, um die Eindringlinge verharren zu lassen.

Durch ihre Trächtigkeit wirkt sie wuchtiger als sie ist und die beängstigenden Laute, die aus ihrer Kehle kommen und die angriffsbereite Haltung lassen einen der Beamten seine Waffe ergreifen und entsichern. Milcho, hinter ihnen stehend, hört das Klicken, begreift was es bedeutet und jammert schrill auf ohne eingreifen zu können, doch der Kollege drückt des anderen Hand nach unten und zischt ihn an, ob er noch bei Sinnen sei? Ob er nicht sehen könne? Ob er nicht begreifen könne, was dieser Hund da täte?

„Er ist nur treu, Kollege, nichts als treu bis in den Tod und darüber hinaus. Suche mir einen Menschen, der ebenso fühlt und handelt, der dich verteidigt bis in den Tod und darüber hinaus, und du wirst lange oder umsonst suchen. Du wirst diesem Hund kein Haar krümmen, so wahr mir Gott helfe! Und nun steck’ deine Waffe weg, bevor du dir noch selbst in die Füße schießt. Der Bürger hier“ und er wendet sich zu Milcho, der käsebleich hinter ihnen auftaucht, „der Bürger wird behilflich sein, das Tier zu entfernen!“

Milcho nickt schlotternd und stolpert in die Hütte hinein, auf Millie zu, die sich nicht vom Fleck gerührt hat und deren drohendes Knurren den Raum erfüllt. Er streckt die Hände nach ihr aus, und sie duldet, dass er sie berührt, wimmert kurz auf, dabei den Blick aber nicht von den Polizeibeamten lassend und ungebrochen, wenn auch leiser, weiter knurrend.

„Millie“, sagt er verzweifelt, „Millitschka, du musst dort weggehen, du kannst ihm nicht mehr helfen. Sei ein gutes, braves Mädchen, lass den Kapitan herein, komm Millitschka, komm, komm mit mir, wir gehen jetzt hier fort... nein? Gut, dann bleiben wir hier, aber wir gehen zur Seite, so, damit die guten Männer ihn wegbringen können, hier, bleib hier, bleib sitzen, bleib brav Millitschka, es ist nicht zu ändern...“ und er greift unter ihre Brust und zieht sie von Iwan herunter, zieht sie aus dem Weg, aber es gibt nicht viel freien Platz in der Hütte und er stolpert über die wackelige Kiste, die Iwan als Tisch gedient hat, fällt darauf nieder, Millie an die Brust gedrückt, während ihm die Tränen aus den Augen rollen. Sie wehrt sich nicht, knurrt auch nicht mehr, sondern bleibt stumm in seinen Armen, mit ihren dunklen, sanften Augen das Tun der Beamten verfolgend, die den Leichnam in einem Plastiksack verstauen. Als sie den Sack aus der Hütte tragen und auf die Bahre legen, wimmert sie erneut, versucht aber nicht, sich aus Milchos Griff zu befreien, sondern starrt hinaus in den Schnee, der sich jenseits der Tür auftürmt, durch den die beiden Männer nun stapfen und den Menschen, der ihr Leben war, mit sich fortnehmen.  

 

Und dann weint sie und klagt Milcho ihr Leid, in hohen, jammernden Tönen, die durch die leere Hütte schweben, hinaus in den kalten Wintertag, den Männern mit der Bahre folgen und Iwan auf seinem letzten Weg begleiten. 

 

Auch die Gosposha weint, als sie Milcho am Abend anruft und er das Geschehen berichtet. Sie weint so bitterlich, dass er kaum ein Wort versteht.

„Ist Millie nun bei dir?“ will sie schluchzend wissen.

„Nein“, sagt er. „Sie will die Hütte nicht verlassen. Ich habe noch eine Tüte mit Essensresten gefunden, die habe ich allen Hunden gegeben. Aber was soll morgen werden? Und übermorgen? Ich habe nicht genug Futter für sie alle. Was soll ich tun, Gosposha? Was?“

„Ich schicke dir morgen den Wagen hinauf, mit genügend Brot für einige Tage. Das kannst du ihnen geben. Wenn du mehr brauchst, ruf mich an.“

„Danke Gosposha“, murmelt er. „es ist nur... bei Millie wird es nicht mehr lange dauern bis die Welpen kommen. Dann wird es Frühjahr sein. Dann kommen die Bewohner zurück und sie verfolgen die Hunde. Ich kann sie nicht beschützen.“

„Ich finde eine Lösung!“ verspricht sie. „ Du weißt, ich habe mich eingesetzt, dass der Isolator in Losenetz aufgegeben wird, es kann  nicht mehr lange dauern, bis es soweit ist. Wenn es dazu kommt, können wir die Hunde dorthin holen. Gospodin Dimitrov hat sicher nicht vergessen, dass du ihm mit den beiden Hunden geholfen hast, die er nach Deutschland bringen wollte und für einige Zeit bei dir unterbringen musste. Er wird einverstanden sein. Dann fangen wir sie alle ein und sie sind in Sicherheit. Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum.“

 

Mitte März 06 wurden in der kleinen Hütte 5 Welpen geboren.

Wenig später kehrten die neuen Bewohner des Berges in ihre Häuser zurück, auf die Regierung schimpfend, die endlos mit dem Bau der Straße trödelte und überdies nicht dafür sorgte, dass endlich die streunenden Hunde verschwanden.

Als Milcho kurz darauf zwei von Iwans Hunden tot auffand, rief er verzweifelt die Gosposha an, die ihn vertröstete, denn die Übernahme des Isolators verzögerte sich von Woche zu Woche. Sie kam jedoch selbst, brachte Futter und redete den Anwohnern ins Gewissen, stellte baldige Änderung in Aussicht und bat inständig um Geduld.

Dennoch verschwand ein weiterer Hund, und das Stadtparlament in Sofia vertagte die Entscheidung über den Isolator Losenetz erneut um eine weitere Woche.

 

Und unter dem Birnbaum saßen Iwans Hunde und warteten auf ihren Herrn.

 

Auszug  "Diesseits der Hoffnung".

Am 17.April 2006  stand ich vor Iwans Hütte und begegnete Millie...

Zum tiefen Grund der Seele..

 

Da steht der silberfarbene Hund – eine Hündin, wie ich jetzt sehe, denn an ihrem dicken Gesäuge hängen zwei Welpen. Die Hündin schaut erwartungsvoll zu Milcho und der Gosposha hoch, die sie mit Brocken von Brot füttern; und während ich das trostlose Bild dieser Stätte in mich aufnehme, die von nichts als nackter Armut und tiefstem Elend kündet und doch offensichtlich die Heimstatt eines Menschen gewesen ist, kommen hinter mir, aus dem Innern des Hauses, weitere dicke kleine Pelzbündel. Es sind fünf.

Und sie sind weiß. Bis auf eines.

Und die Jahre rollen zurück...

Damals waren es auch fünf. Und sie waren alle schwarz. Überwiegend.

Ich war mit den zusammengeklaubten Resten unserer Mahlzeit in das Dickicht des Waldes oberhalb des Goldstrandes eingedrungen um eine abgemagerte und offensichtlich kranke Hündin zu füttern; und dann waren sie den Berg heruntergekommen, fünf hungrige Babys, ihre Kinder.

Misas Kinder. 

Jetzt stehe ich wieder in einem Dickicht der Verlorenheit, umringt von Hunden, die kein anderes Heim als dieses hier haben, und bedroht sind von dem gnadenlosen Hass erbarmungsloser Seelen, die nur das Recht des Stärkeren anerkennen, und die ihre Nichtexistenz wollen – wenn nicht anders, dann auch ihren Tod. ...

... Die Hündin  bleibt  stehen, wendet sich halb und blickt zu mir, die ich bei ihren Welpen  geblieben bin.

Zu meinen Füßen piepst es und ein kleines, dickes weißes Bündel von Brieftaschengröße hockt da unten und jammert nach seiner Maika. Ich nehme es hoch und hier fällt es mir nicht schwer, trostreiches zu flüstern. Das Bündel schaut mit großen verwunderten Augen und hört auf zu piepsen, schmiegt sich warm und weich in meine Hand und ich weiß, dass ich wieder einmal verloren bin.

Die Hündin schaut mich noch immer an, vielleicht besorgt wegen ihres Welpen, aber sie steht nur und beobachtet mich, ohne Anspannung oder Angst, und zum ersten Mal, seit ich hier herauf gekommen bin, nehme ich sie wirklich wahr, sehe ihre Schönheit, ihre Anmut und unvergleichliche Würde, aber auch die Demut mit der sie die Last trägt die ihr auferlegt wurde; und der Blick der dunklen Augen, die mich mit sanfter Beharrlichkeit betrachten, scheint mich bis zum tiefsten Grund ihrer Seele zu ziehen.

  

Vielleicht bin ich die Schutzkraft, die dich hüllt,

die Liebe, die dich hält und heilt und segnet,

die dir verwandelt überall begegnet

und unser Leben hier und dort erfüllt.

In liebevoller Erinnerung an Iwan, den ich nie gesehen und dennoch gekannt habe.

Und für Millie, die ihn liebte, eine der wunderbarsten Seelen die  mir je begegnet ist.

 

Am 22.Oktober 2018 ist sie, die 12 Jahre lang Nadeshda hieß,  zu ihm gegangen.

Ich hatte sie mit ihren überlebenden Welpen im April von diesem Berg herunter geholt und nach Losenetz gebracht, das gerade zum Tierheim umgewandelt wurde. Ich gab ihr den Namen "Nadeshda", ebenso wie dem Tierheim, denn Nadeshda heißt "Hoffnung". Das Tierheim "Nadeshda" schloss 2016 seine Pforten und blieb jenseits jeder Hoffnung, doch für Millie erfüllte sie sich.  Sie fand ein Zuhause bei Dagmar in NRW, und es war ein wunderbares Zuhause, in dem sie glücklich war.  Die Tierkommunikatorin, die sie in den letzten Tagen und Stunden begleitet hat, sagte, dass Iwan auf sie wartete. Ich weiß nicht ob das stimmt, ob es diese Welt hinter dem Regenbogen gibt - aber die Vorstellung ist schön und tröstlich, also will ich daran glauben. Die 12 Jahre die sie in Deutschland verbrachte waren wunderschön - sie wurde so geliebt und verwöhnt wie sie nun  schmerzlich vermisst wird. 

 

Aber nun ist sie wieder bei ihm und der Kreis hat sich geschlossen.